Politische Jugendsünden eines späteren Pfarrers
Die politischen Jugendsünden des späteren Pastors Baltz (*1812 †1895),
Pfarrer in Olpe von 1856 bis 1893
Man kann sich sehr gut das entsetzte Gesicht des Gutsbesitzers Schöpplenberg vorstellen, als am 17. Oktober 1834 der Land- und Stadtgerichtsdirektor Hennecke mit seinem Sekretär per Extrapost aus dem etwa 10 km entfernten Hagen nach Schöpplenberg kam, um den dort tätigen Hauslehrer Heinrich Theodor Baltz zu vernehmen und seine Sachen nach gefährlicher literarischer Konterbande zu durchsuchen. Den Auftrag dazu hatte er von preußischen Oberbehörden aus Berlin bekommen, da Baltz der Theilnahme an geheimen Verbindungen verdächtig ist. Die Haussuchung ergab indes keinen Hinweis auf den Besitz verbotener Sachen, und bei der Befragung gab Baltz an: Während meiner Studienzeit habe ich niemals einer Studentenverbindung, als [da sind] Burschenschaft [und] Landsmannschaft […] angehört. Hennecke ließ sich die protokollierte Aussage, wohl wissend, daß Baltz nur die Unwahrheit gesagt haben könnte, unterschreiben und zog mit seinem Sekretär wieder von dannen.
Was war geschehen, daß die königlichen Behörden ein derartiges Interesse an einen Hauslehrer an den Tag legten? Um dies zu ergründen, ist es notwendig, einen kurzen Blick auf den persönlichen und beruflichen Werdegang von Baltz zu werfen.
Heinrich Theodor Baltz wurde am 2. November 1812 als Sohn des Gerichtsschreibers und späteren Kreisgerichtssekretärs Johann Konrad Baltz in Bochum geboren und nach evangelisch-reformiertem Bekenntnis getauft. Sein älterer Bruder Moritz begründete 1827 das noch heute florierende bekannte Bochumer Modehaus M. Baltz. Sein Abitur bestand Heinrich Theodor 1830 auf dem Dortmunder Gymnasium. Nach einer Familienüberlieferung interessierte er sich zeitlebens für Geschichte und schöngeistige Literatur. Die politischen Ereignisse beschäftigten ihn lebenslang. Nach einem erhalten gebliebenen Quittungszettel aus dem Jahre 1886 hatte er folgende Blätter abonniert: Kölnische Zeitung, Neue Westfälische Zeitung, Westfälischer Hausfreund, Evangelisches Gemeindeblatt für Rheinland und Westfalen, Siegerländer Volksfreund und Sonntagsblatt – ein untrüglicher Hinweis auf Baltz’ bis ins hohe Alter ungebrochenes politisches Interesse. Seine akademische Ausbildung begann er Ende 1830 an der Universität Halle-Wittenberg: er widmete sich dem Theologiestudium an der größten und berühmtesten theologischen Fakultät Deutschlands. Von den 1100 Studenten in Halle zählten allein 750 zu den Theologen. Die Professorenschaft wies so bedeutende und bis heute bekannte Namen auf wie den rationalistischen Alttestamentler Gesenius oder den pietistischen Orientalisten und Neutestamentler August Tholuck. Bei beiden hörte Baltz.
Für Studenten war Halle an sich kein ungefährliches Pflaster, denn in den Zeiten von Restauration, Reaktion und Repression mußten studentische Heißsporne Schlimmes gewärtigen. Die Befreiungskriege 1813/15 und später die Julirevolution 1830 in Frankreich ließen unter vielen deutschen Bildungsbürgern ein drängendes Verlangen nach Partizipation, also nach Demokratie, nach Verfassungsgarantien, einer Begrenzung absolutistischer Macht und nicht minder nach der Einheit des deutschen Vaterlandes wach werden. Dieser politische Aufbruch traf auf den massiven Widerstand des etablierten Systems, das alles unternahm, jegliches tatsächliche oder auch nur vermutete Aufbegehren im Keim zu ersticken. Besonders scharf gingen die Behörden gegen studentische Verbindungen, Landsmannschaften und Burschenschaften vor, die im Ruch revolutionärer Bestrebungen standen, observierten alle Personen, die ihnen verdächtig erschienen, und sahen in den Farben „Schwarz-Rot-Gold“ Signale zum politischen Umsturz. Federführend bei der Verfolgung oppositioneller Bestrebungen im gesamten Deutschen Bund war eine in Frankfurt/M. angesiedelte Zentralbehörde. In Preußen selbst war es eine Ministerialkommission, die die Untersuchungen betrieb, und das Berliner Kammergericht, dem die Fälle zur Aburteilung überwiesen wurden.
Baltz unternahm in Halle den Schritt, der ihn später in große Schwierigkeiten bringen sollte: er trat der Hallischen Burschenschaft bei. Sonderlich hervorgetan wird er sich dabei nicht haben, denn er gab in späteren Vernehmungen an, disziplinarisch in Halle nie belangt worden zu sein. Ostern 1833 wechselte er sodann nach Bonn. Das Abgangszeugnis von der dortigen Universität vom 17. Februar 1834 bescheinigte dem Studiosus sogar: Einer Theilnahme an verbotener Verbindung unter Studirenden ist derselbe nicht verdächtig geworden. Offensichtlich waren es derartige Testate, die später Baltz veranlaßten, dem Gerichtsdirektor in Schöpplenberg die Lüge aufzutischen, er wäre nie in einer Verbindung oder dergleichen Mitglied gewesen. Baltz wähnte sich in Sicherheit und glaubte, der investigativen preußischen Justiz entkommen zu sein.
Die Beendigung eines Theologiestudiums war damals wie auch heute, strebte der Kandidat ein Pfarramt an, nicht mit einem Universitätsexamen, sondern mit einer Prüfung vor einem kirchlichen Gremium verbunden. Im Falle von Baltz und allen westfälischen Theologiestudenten war es das Königliche Konsistorium in Münster. Nach der vorgeschriebenen Semesterzahl meldete sich der Student, hier also Baltz, bei dieser Kirchenbehörde zum Abschlußexamen. Für die mehrere Monate dauernde Wartezeit zwischen Meldung und Prüfung sowie die Zeit, in der die vorgegebenen Themen schriftlich auszuarbeiten waren, suchte sich der Kandidat eine Beschäftigung. Begehrt waren Hauslehrerstellen wie etwa die von Baltz auf dem Gut Schöpplenberg.
Unmittelbar nach Antritt seiner Hauslehrerstelle meldete sich auch Baltz beim Konsistorium zum Examen und bekam schon nach zwei Wochen, Mitte Juni 1834, die Aufgaben für die schriftlichen Prüfungsarbeiten, die er auch anfertigte und in Münster einreichte. Baltz wurde jedoch weder zum Termin der nächsten noch der übernächsten mündlichen Prüfung geladen. Ob er darob stutzig wurde, ist nicht überliefert. Die Wartezeit bis zum mündlichen Examen wollte er mit der Ableistung seines Militärdienstes überbrücken und trat im Juni 1835 als Einjährig-Freiwilliger in das 13. Infanterieregiment in Münster ein und mußte dort zusehen, wie nicht bloß diejenigen, welche später ausstudiert hatten als ich, das Examen machten; ich allein ward zurückgewiesen. Offensichtlich hatte das Konsistorium schon ziemlich zeitig davon Kunde erhalten, daß sich die Behörden für die Person des Kandidaten Baltz interessierten, denn die eingereichten Prüfungsarbeiten tragen keinerlei Korrekturvermerke und sind unbenotet in Baltz’ Personalakten zu finden.
Da in den Vernehmungen anderer Hallenser Burschenschafter der Name von Baltz häufiger gefallen war, beschloß die Ministerialkommission, sich näher mit ihm zu beschäftigen und eruierte dessen Aufenthaltsort in Münster. Da Baltz mittlerweile Militärperson geworden war, konnte die Zivilbehörde sich seiner vorerst nicht versichern. Eine Allerhöchste Kabinetts-Ordre vom 26. Oktober 1835 verfügte indes seine Entlassung aus dem Militärverhältnis, und somit besaßen die Untersuchungsbehörden wieder eine eigene Zuständigkeit. Baltz vermerkte in seinem Notizbuch: Aus dem löblichen Kriegsdienst wurde ich gewaltsam herausgerissen und am 18. Dezember 1835 arretiert. Nun Zivilperson geworden, fertigte der Münsteraner Oberbürgermeister am 22. Dezember einen Transportbefehl aus, in dem zu lesen stand, daß in Folge Requisition eines Königlichen Hoch-Preißlichen Kammer-Gerichts vom 19. November c[urrentis] so wie des Rescripts Königlicher Hochlöblicher Regierung dahier [d.h. in Münster], vom 22. d[ieses] M[ona]ts, zwei Gendarmen den Arrestanten mit Extrapost nach Berlin zu transportiren und denselben […] an Ein Königliches Hoch-Preißliches KammerGericht abzuliefern hätten. Dort ist er dann am 26. Dezember auch abgeliefert worden, und zwar in dessen Untersuchungsgefängnis, der Hausvogtei.
Der preußische Fiskus hat sich die Verbringung von Baltz nach Berlin etliches kosten lassen. Nach überschlägiger Rechnung wird man von einem Betrag von über 100 bis 120 Talern ausgehen müssen, dem Jahreseinkommen eines Tagelöhners. Vier Tage Hin- und drei oder vier Tage Rückreise mit den entsprechenden Kosten wie Verpflegung, Übernachtung, Tagegelder, Aufwendungen für die Extrapost etc. schlugen dabei zu Buche.
Bei der Hausvogtei handelte es sich um das bekannteste Berliner Untersuchungsgericht samt Untersuchungsgefängnis. Es befand sich unweit des Gendarmenmarktes und wurde erst 1890 abgerissen. Während die gewöhnlichen Kriminellen in der Stadtvogtei eingesperrt wurden, war die Hausvogtei den ‚besseren’ Gefangenen vorbehalten, vor allem den „politischen“. Prominentester Häftling dürfte der spätere Schriftsteller Fritz Reuter gewesen sein, der 1834 in der Hausvogtei einsaß, also nur kurze Zeit vor Baltz. Von Baltz selbst besitzen wir keinerlei Zeugnisse über seine Gefängniszeit und die Haftbedingungen. Wohl aber kennen wir die Zustände in der Hausvogtei aus mancherlei Äußerungen und Briefen Reuters, und sie können selbst für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts keinesfalls als menschenwürdig bezeichnet werden.
Baltz’ Haft in der Hausvogtei dauerte bis zum 5. Februar 1836, wobei die Verhöre (wie auch bei Fritz Reuter) dem Kriminalrat Dambach oblagen. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung als Untersuchungsrichter wußte dieser die ihm aufgetragenen Untersuchungen höchst effizient zu führen, wußte die Schwachstellen der Untersuchungshäftlinge aufzuspüren und durch stetes und wiederholtes Nachfragen und nochmalige Vernehmungen Unwahrheiten, Halbwahrheiten und Widersprüche aufzudecken oder durch vage Versprechungen die Delinquenten zu belastenden Aussagen – die eigene Person oder andere betreffend – zu veranlassen. Bei Dambach haben wir es also mit einem fachlich ausgezeichneten, hochkompetenten Kriminalbeamten zu tun. In der Literatur wird er durchweg negativ beurteilt, wahrscheinlich aufgrund der Erfahrungen Fritz Reuters mit ihm, der allerdings ein sehr renitenter, unangenehmer, verlotterter, aufsässiger und widerborstiger Häftling und Quartalssäufer war.
In seiner ersten Vernehmung erklärte Baltz, und zwar im Gegensatz zu seiner Einlassung in Schöpplenberg, daß er von Michaelis 1830 bis Ostern 1833 der „Arminia“ als einfacher Burschenschafter angehört habe, ihm aber die politische Richtung der Burschenschaft nicht recht klar geworden sei. Dieses Eingeständnis mußte natürlich weitere, nun höchst intensive Befragungen nach sich ziehen. Dabei hat Dambach als Fachmann die Verteidigungsstrategie von Baltz durchschaut und gekonnt unterlaufen. In den Verhören spielte Baltz zunächst den Unwissenden, der nur zufällig in studentische Veranstaltungen geraten sei. Späterhin konfrontierte ihn der Untersuchungsrichter jedoch mit den Aussagen anderer Hallenser Studenten, die sehr wohl von Baltz’ burschenschaftlichen Aktivitäten berichtet hatten, sodaß sich der Häftling nolens volens zu immer weiterreichenden und ihn belastenden Aussagen genötigt sah. Zwischenzeitlich geriet Baltz in eine der Haft geschuldete psychische Krise, die ihn folgende verzweifelten Worte zu Papier bringen ließ: O Gott! Sei nicht ferne von mir! Deine Hand liegt schwer auf mir; hilf mir, die Wunde ist groß, die du mir geschlagen. Dambach erkannte Baltz’ Lage und ließ ihn ohne weitere Vernehmungen zwei Wochen in seiner Zelle „schmoren“, er wollte eine Aussagebereitschaft erzwingen. Möglich erscheint, daß Baltz in der Haft der Lebensmut abhanden gekommen war und er in einen höchst lethargischen Zustand verfiel – oder einen solchen vorschützte. Dambach befand jedenfalls: Baltz ist ein höchst phlegmatisches Subject, dem es anscheinend Mühe macht, den Mund zu einer Antwort zu öffnen; mehrere Minuten lang muß man oft darauf warten und erhält dann gewöhnlich erst einige hingemurmelte Laute, die neue Fragen nöthig machen. Bei diesem Mangel aller geistigen Regsamkeit wird sein sich oft wiederholendes „Ich weiß das nicht mehr“ einigermaßen glaublich. Diese Charakterisierung durch den Untersuchungsrichter wurde später wortwörtlich in das kammergerichtliche Urteil übernommen und hat Baltz wahrscheinlich vor exzessiver Strafe bewahrt.
Dambach wollte die causa Baltz nun rasch zu Ende bringen. Also verfügte er: Dem p. Baltz wurde […] aufgegeben, die Mitglieder der Hallischen Burschenschaft, soweit sie seine Zeitgenossen geworden [waren], alphabetisch aufzuzeichnen und [deshalb sind] ihm zu dem Zwecke 2 Bogen Papier ins Gefängniß verabfolgt [worden].
Damit war Baltz in eine für ihn außerordentlich peinliche Situation geraten: Er sah sich genötigt, alle ihm bekannten Burschenschafter aufzuführen und setzte sich auf diese Weise dem Odium eines Verräters aus. Weigerte er sich indes, den ihm aufgetragenen Weisungen nachzukommen, machte er sich staatsabträglichen Verhaltens noch mehr als bisher verdächtig. Sachverhalte konnte man verschleiern, Inhalte von Verhandlungen bei Burschenschaftszusammenkünften nicht verstanden oder gar vergessen haben, weil man vorgab, zu betrunken gewesen zu sein; freundschaftliche Beziehungen konnte man bagatellisieren und Reisen mit Bundesbrüdern als gesellige Ausflüge interpretieren – um die Bekanntgabe von Namen kam Baltz nicht herum! Diese konnte man nicht ohne weiteres vergessen. Dabei mußte er sich dessen bewußt sein, daß mit der von Dambach angewandten kriminaltaktischen Maßnahme das gesamte Netzwerk burschenschaftlicher Verbindungen entflochten werden konnte, falls nicht bereits geschehen.
Baltz fügte sich der Weisung und listete tatsächlich alle ihm bekannten Burschenschafter auf. Dies ist übrigens ein untrügliches Indiz, daß er über ein sehr gutes Gedächtnis verfügte. Für die Zeit von Michaelis 1830 bis Michaelis 1831 nannte er 55 Namen, auf die Zeit von Ostern 1832 bis Ostern 1833 bezogen sich 21 Namen.
Am 2. Februar fand das Schlußverhör statt. Nach diesem war dann das anhängige Verfahren „spruchreif“, d.h., es wurde dem Kammergericht zum Urteilsspruch übergeben. In diesem Verhör wiederholte Baltz im wesentlichen die bisherigen Aussagen, bestritt jegliches staatsabträgliche politische Engagement, wollte von einer tatsächlichen Radikalisierung der Burschenschaft keine Kenntnis erlangt haben und nur aus idealistischen Gründen ihr beigetreten sein. Im Beisein seines Pflichtverteidigers bat Baltz um seine vorläufige Entlaßung aus der Haft.
Das Kammergericht entsprach am 5. Februar diesem Antrag. Baltz wurde jedoch das eidliche Versprechen abgenommen, sich von Bochum, wohin er sich begeben wollte, ohne Genehmigung der Gerichtsbehörde nicht zu entfernen. Diese vorläufige Entlassung hatte nicht zuletzt ihren Grund in der hoffnungslosen Überbelegung der Haftanstalten. Die Hausvogtei war zeitweise so überfüllt, daß viele Haftbefehle nicht vollstreckt werden konnten.
Das Kammergericht ging bei seiner Entscheidung auf Freilassung wohl davon aus, daß die Baltz zu erwartende Strafe nicht exorbitant hoch ausfallen werde und Fluchtgefahr nicht bestand, da der abgenommene Eid Baltz absolut band. Nach dem studentischen und akademischen Ehrenkodex war der Bruch eines eidlich abgenommenen Versprechens undenkbar. Baltz selbst wird seine Freilassung nach reichlich fünf Wochen Untersuchungshaft als ein gutes Omen gedeutet und allenfalls eine geringfügige Bestrafung erwartet haben.
Theodor Baltz wird sich nach seiner Freilassung unmittelbar in seine Vaterstadt Bochum begeben und dort auf die Urteilsverkündigung gewartet haben. Am 4. August 1836 fällte das Kammergericht sein Urteil; wie damals üblich, ohne mündliche Verhandlung und ohne mündliche Urteilsverkündigung, lediglich auf Grundlage der Protokolle und Erhebungen im Vorverfahren und der Verteidigungsschrift des Anwalts. Das Urteil wurde ausgefertigt und dem Angeklagten zur Kenntnis gebracht. Wann dies geschehen ist, entzieht sich näherer Kenntnis.
Baltz war, so das Urteil, wegen Theilnahme an der Halleschen Burschenschaft […] zu bestrafen. Denn seine Theilnahme an der Halleschen Burschenschaft als einer verbotenen Studenten Verbindung steht durch sein Geständniß fest und schon dafür hat er: Unfähigkeit zu allen öffentlichen Aemtern und sechsjährigen FestungsArrest verwirkt.
Als eine bis zum Jahre 1953 mögliche Form der Bestrafung existierte die sogenannte „Festungshaft“, eine oft in Festungen vollstreckte, nicht entehrende Freiheitsstrafe. Der Delinquent konnte also nach deren Verbüßung erhobenen Hauptes in sein Zivilleben zurückkehren und war nicht in seiner Ehre tangiert oder als ehemaliger Gefangener oder Verbrecher stigmatisiert. Dadurch, daß das Kammergericht die Burschenschafter durchweg zu Festungshaft verurteilte, bescheinigte es ihnen, von solchen Motiven bei ihren Taten bestimmt gewesen zu sein, die nicht verbrecherischer Natur waren.
Wesel war diejenige Zitadelle, in der Baltz seinen Arrest abzusitzen hatte. Diese Festung besaß einen gewissen Bekanntheitsgrad, denn sie hatte in der Vergangenheit prominente Häftlinge beherbergen müssen: Hier war kurzzeitig der preußische Kronprinz Friedrich, der spätere Friedrich der Große, inhaftiert, als er im August 1730 bei einem Fluchtversuch gestellt worden war, und auf den Wällen von Wesel sind im September 1809 die elf gefangenen Offiziere des Freikorps Schill, das gegen Napoleon gekämpft hatte, von den Franzosen füsiliert worden.
Baltz hatte die Order bekommen, sich am 17. November 1837 auf der Zitadelle einzufinden, 15 Monate nach der Urteilsverkündigung. In seinen Aufzeichnungen notierte Baltz: Ankunft in Wesel 17. November 1837, dazu vermerkte er den traurigen Satz: Gefangener Mann, ein armer Mann! Ach! Habt mit mir Erbarmen!
Allerdings, ganz so aussichtslos war seine Lage doch nicht, denn Baltz trat seine Festungshaft in dem Wissen an, daß diese ein Jahr und nicht sechs lange Jahre betragen würde: Eine Allerhöchste Kabinetts-Ordre vom 26. September 1837, also noch vor seinem Haftantritt, hatte den Festungsarrest vorläufig auf ein Jahr reduziert.
Nun waren die Haftbedingungen in Wesel nicht derart schlimm, wie er sie wohl befürchtet und dies über andere Festungen gehört hatte. Bereits am Tag nach Haftantritt, am 18. November, bekam er eine Erlaubnis-Karte Zum Ausgehen nach der Stadt für den Stubengefangenen Baltz An Sonn und Feiertagen Vormittags drey Stunden und Donnerstag Nachmittags drey Stunden.
Die Festungshaft in Wesel war eine recht lockere. Die Arrestanten konnten Korrespondenz pflegen, Geldzuwendungen empfangen und sich Literatur besorgen; selbst Besuche von außerhalb waren auf der Zitadelle möglich. Die Festungsoffiziere waren im allgemeinen erfreut, in den inhaftierten Studenten und Akademikern adäquate Gesprächspartner zu finden und ihnen sogar den Unterricht ihrer Kinder übertragen zu können.
Das einzige, was den Inhaftierten zum Problem werden konnte, war, ihre freie Zeit, die sie ja nun im Übermaß hatten, sinnvoll auszufüllen und nicht abzustumpfen oder in Agonie oder im Suff zu versinken. Baltz jedoch hat sich, so besagt es die familiäre Überlieferung, in die alten und neuen Sprachen vertieft, sich mit Religions- und Kirchengeschichte und hebräischer Geschichte und Archäologie befaßt.
Da Baltz über keinerlei Vermögen verfügte, war er auf Unterstützung durch seine Familie angewiesen. Sein älterer Bruder Ludwig hat ihm mehrmals Geld zukommen lassen, denn Baltz hatte für vielerlei selbst aufzukommen, so für Kleidung, seine Bücher, er benötigte Kerzen, Schreibutensilien und Porti; auch die Ausgaben, die bei seinen Besuchen in Wesel anfielen, mußten beglichen werden. Aus Baltz’ Aufzeichnungen ist zu entnehmen, daß er vom 1. bis zum 11. Juni 1838 Urlaub zum Besuch seiner Familie in Bochum bewilligt bekommen hatte. Verständlicherweise mußte er für die Reise mit der Postkutsche von Wesel nach Bochum und zurück auch selbst die Kosten tragen.
Da seine Haftzeit am 22. November 1838 enden würde, bat Baltz im August das Konsistorium um Zulassung zum nächsten Examen, das im November abgenommen wurde. Das Konsistorium fragte daraufhin bei der Ministerialkommission in Berlin nach, erhielt indes von dort den Bescheid, daß die gegen Baltz ausgesprochene Amtsunfähigkeit durch die Verkürzung der Festungszeit nicht aufgehoben worden sei. Baltz solle sich, so der Bescheid, zunächst an die Gnade Seiner Majestät wenden. Erst im August 1839 erhielt er als Bescheid, des Königs Majestät haben gegenwärtig, laut Rescripts der hohen Königlichen Ministerial-Commission vom 17. August c[urrentis] auf Vorstellung des p. Baltz […] zu entscheiden geruht und ist dem p. Baltz nicht nur die Zulassung zu der in Antrag gebrachten Prüfung, sondern auch im Allgemeinen die weitere Ausbildung auf der gewählten Laufbahn Allergnädigst gestattet worden.
Baltz legte sodann im Dezember 1839 vor dem Konsistorium in Münster sein erstes theologisches Examen mit durchweg guten Noten ab. Auch seine neuen Hausarbeiten gefielen der Prüfungskommission. Er wußte nunmehr, daß seiner ferneren Laufbahn als Geistlicher nichts mehr im Wege stand und seine Vergangenheit ihn nicht weiter verfolgte. Die Zeit bis zu seinem zweiten theologischen Examen im Oktober 1840 verbrachte Baltz als Lehrer in Wengern. Hier bereitete er sich auf diese Prüfung vor. Die dem Konsistorium vorgelegten Arbeiten erhielten wiederum gute Noten; die mündliche Prüfung ergab, daß sich seine Kenntnisse noch weiter verbessert hätten und er einen guten Sinn und viel Interesse für Wissenschaft und Amt zeige. Sein Kanzelvortrag, so die Prüfungskommission, verspreche viel Gutes. Doch ist die Gestikulation noch zu bedeutungslos – offensichtlich ein Hinweis auf Baltz’ phlegmatischen Habitus.
Baltz war nun am Ende seiner Ausbildung angelangt und konnte auf ein Pfarramt hoffen. An seinem 28. Geburtstag, dem 2. November 1840, notierte er: Ich danke Gott, daß er mir nach vielen Jahren der Drangsal einen Ruhepunkt vergönnt, von dem aus ich mit Tränen schmerzlicher und dankbarer Empfindung auf mein Leben zurückschauen kann.
Immerhin hat Baltz sein burschenschaftliches Engagement mit einem Zeitverlust von fast vier Jahren bezahlen müssen. Offensichtlich hat sich dies aber bei ihm nicht in einer lebenslangen Verbitterung niedergeschlagen, wie auch Fritz Reuter seine „Festungstid“ letztlich in einem milden Licht gesehen hat. Allerdings wird er sich keinen Illusionen hingegeben haben, bei seiner politischen Vergangenheit auf eine gutbesoldete und attraktive Pfarrstelle reflektieren zu können.
Baltz wirkte nach seiner beendeten Ausbildung mehrere Jahre als Lehrer in Wengern. Erst 1847 wurde er ordiniert und als Pfarrverweser und Lehrer in die neugegründete kleine Diasporagemeinde Lüdinghausen eingeführt. Da es sich bei Lüdinghausen um eine äußerst arme Gemeinde gehandelt hat, mußte der neue Pfarrverweser mit dem recht geringen Jahresgehalt von 300 Talern auskommen.
In Lüdinghausen lernte Baltz seine spätere Frau kennen, Augustine von Hövel, am 20. Mai 1856 heirateten beide in Dortmund. Der Schwiegervater war finanziell an der dortigen Thier-Brauerei beteiligt. Daß Baltz angesichts seiner Verehelichung nun auf eine finanziell besser ausgestattete Pfarrstelle reflektierte, war verständlich.
Das Konsistorium konnte sich diesem Wunsch wohl nicht verschließen und faßte Baltz als Nachfolger von Pastor Damköhler in der 1844 gegründeten Diasporagemeinde Olpe ins Auge. Da die Gemeinde keine Einwendungen erhob, wurde der neue Pfarrer durch den Siegener Superintendenten Bender am 20. April 1856 in sein Amt eingeführt.
Die Olper Stelle war tatsächlich besser dotiert als die bisherige in Lüdinghausen. Baltz konnte fürs erste mit einem jährlichen Einkommen von etwa 500 Talern rechnen, doch lag er mit diesem Gehalt deutlich im unteren Bereich der in der Siegener Synode üblichen Einkünfte. Pfarrer Baltz war derjenige unter den Olper evangelischen Geistlichen, der die längste Amtszeit in der Pfarrstelle aufzuweisen hat, und zwar über 37 Jahre, von 1856 bis 1893.
Werfen wir letztendlich einen Blick auf Baltz’ politische Einstellung. Seine Haltung, die er als Student an den Tag gelegt hatte, hat er bis ins hohe Alter durchgehalten. In seiner Familie wird tradiert, daß Baltz sein demokratisches, nationales und liberales Gedankengut höher als konservatives Denken geachtet hat. Sein schwarz-rot-goldenes Burschenschafterband begleitete ihn durch sein gesamtes Leben. Seine Nachfahren haben es vor Jahren der evangelischen Kirchengemeinde Olpe geschenkt wie auch die abgebildete Erlaubnis-Karte.
Mit Preußen hat Baltz, wie die meisten Burschenschafter, seinen Frieden geschlossen, hatte doch dieser Staat wenigstens zum Teil das verwirklicht, was zu den Idealen seiner Jugendzeit gehört hat, die Einheit Deutschlands.
Zu Ende Juni 1893 wurde Theodor Baltz emeritiert. Das Kirchliche Amtsblatt vermeldete dazu: Seine Majestät der Kaiser und König haben Allergnädigst geruht dem Pfarrer Baltz in Olpe, Diözese Siegen […] aus Anlaß […] [seines] zum 1. Juli d[ieses] J[ahre]s anstehenden Uebertritts in den Ruhestand den Königlichen Rothen Adler-Orden 4. Klasse zu verleihen.
Nicht nur Baltz hatte seinen Frieden mit Preußen gemacht, auch der preußische Staat durch die Ordensverleihung den seinen mit dem ehemaligen Festungshäftling. Pfarrer Baltz konnte sich nun als endgültig rehabilitiert betrachten.
Nach seiner Emeritierung ist Theodor Baltz zu seinem Sohn nach Eschwege gezogen, der in der hessischen Stadt eine Apotheke betrieb. Am 2. Dezember 1895 ist er dort verstorben. Seine Frau hat ihn um fünf Jahre überlebt. Nachkommen von Pastor Baltz leben heute noch. - -